Mit seinem Bruder Daouda gehen wir in die Daaras; eigentlich ganz harmlos der Name einer jeden Koranschule, handelt es sich hier um die Orte, an denen die Straßenkinder wohnen, sandige Höfe, Bretterverschläge, auf dem sandigen Boden ein oder zwei Matten; zwanzig und mehr Kinder wälzen sich auf den Matten, lachen, als wir kommen, strecken uns zur Begrüßung die kleinen schmierigen Hände entgegen.
Es sind die Talibés, die Straßenkinder von Saint Louis; sie kommen aus dem Norden, aus Podor, sie kommen aus Mauretanien und Mali; die Eltern haben sie der Obhut des Marabous anvertraut; manche sind erst fünf Jahre, und werden schon dem Marabou mitgeschickt.  Bis zur Volljährigkeit bleiben sie bei ihm, sollen sie bei ihm bleiben; einige ergreifen die Flucht, versuchen irgendwie nach Hause zu gelangen; ‚der kleine Ibou aus dem Daara Nr. 4 ist schon fünfmal weggelaufen‘ erzählt Daouda.  Talibés, so bezeichnete man ursprünglich die jungen Studenten einer Koranschule; dann wurde der Begriff ausgeweitet auf alle Gläubigen, die einem spirituellen Führer, einem Marabou folgen. Und schließlich werden im Senegal die Straßenjungen so genannt. Auch wenn das Betteln seit 2005 offiziell verboten ist, besteht das System fort. Viele kleine Talibés kommen heutzutage aus den Nachbarländern des Senegals, aus Mali, Gambia und Guinea, da dort die Kinderschutzgesetze strenger durchgesetzt werden und ihre Eltern sie nicht mehr so unbehelligt einem Marabou überlassen können. Vorsichtige Schätzungen sprechen von zweihundert- bis dreihunderttausend Talibés im Senegal.
Daouda ist ein schmaler, hochaufgeschossener junger Mann in engen Jeans und einem hellen T-Shirt. Wir treffen ihn zunächst im Haus seines Vaters, vormittags, im Süden der Insel von Saint Louis; er lässt uns ins Haus, führt uns durch einen ruhigen Innenhof in ein kühles Wohnzimmer mit Ventilator; in riesigen Polstersesseln, die mit Tüchern abgedeckt sind, nehmen wir Platz; vor uns am Boden auf seiner Matte kniet ein älterer Herr im Gebet, den uns Daouda kurz darauf als seinen Vater vorstellt.
Daouda, der ältere Bruder Makhtars , ist 29 Jahre al; er arbeitet in einer Fabrik, in der die Eisblöcke, die zum Transport des reichhaltigen Fischfangs von Saint Louis bis in das 265 km entfernte Dakar nötig sind, gepresst werden. Als wir ihn treffen, hat er wegen des Ramadan gerade ein paar Tage Urlaub. So kann er sich ganz der Arbeit mit ‚seinen‘ Kindern in den Daaras widmen.
Drei Jahre ist es her, dass Daouda mit seinem jüngeren Bruder Makhtar und einigen Freunden die Association ‚espoir des enfants de la rue‘ gründete. Seitdem haben die jungen Männer ihren Lebensinhalt gefunden: Daouda, der Fabrikarbeiter, Makhtar, der Bäcker und Amadou, der Künstler, wie er sich selbst nennt. Mit einem Freund verkauft Amadou im Herzen von Saint Louis, da wo die Touristen sich tummeln, Holzketten, Skulpturen aus Teak- und Ebenholz und Batikkleidung, alles hergestellt von Amadous Familie. In der Mittagshitze, wenn das Thermometer weit über 35 Grad klettert und die potentiellen Käufer Siesta machen, verlässt Amadou den Verkaufsstand, greift zur schwarzen Kunststofftasche und macht sich mit Daouda auf den Weg zu den Kindern.
Während Amadou kleine Wunden verarztet, Kinderköpfe entlaust und umsichtig Augentropfen gegen Entzündungen einträufelt , lässt Daouda die Kinder rechnen, beginnend mit einfachsten Additionsaufgaben bis zum Multiplizieren und schließlich dem Dividieren, das nur wenige Kinder ansatzweise beherrschen.
In Saint Louis, einer Stadt von 150.000 Einwohnern, leben, so die Schätzungen 15.000 Talibés, ausschließlich Jungen zwischen fünf und Achtzehn Jahren, die von ihren Eltern in die Obhut eines Marabous gegeben wurden. Unzählige Marabous leben im Senegal. Für westliche Besucher sind sie schwer zu begreifen. Amary, ein Lehrer aus Kaolack, gibt uns eine Einordnung: Da sind erstens die Marabous, die als geistliche Autoritäten (Cheikhs) durch ihre besondere Kenntnis des Islam Autorität erworben haben; die zweite Gruppe der Marabous hinwiederum verfügt über besondere hellseherische und heilende Kräfte; diese Marabous erteilen Rat bei Problemen des familiären und sozialen Zusammenlebens und helfen bei wichtigen Lebensentscheidungen. Jeder Ringkämpfer oder Fußballer holt sich vor dem sportlichen Einsatz kraft bei seinem Marabou. Politiker und Geschäftsleute tragen unter ihrer Krawatte das gris gris (Amulett), das ihnen ihr Marabou zum Zeichen seiner Unterstützung gegeben hat. Es gibt Marabous, die einfühlsam und sachkundig ihre Anhänger beraten, die sich sorgsam um die ihnen anvertrauten talibés kümmern; und es gibt solche, das ist – so Amary - die dritte Gruppe, die wie Scharlatane ihre angeblich heilbringenden Amulette gewinnbringend verkaufen und aus dem Betteln der Talibés Profit ziehen.  In der Koranschule, der Daara eines Marabous, leben bis zu dreißig Kinder auf engstem Raum. Einzige Beschäftigung ist das Studium des Korans, einziger Besitz eines jeden Kindes ist die Holztafel, auf die die Suren in arabischer Schrift geschrieben werden.  Die kleinen Talibés kennen weder öffentliche Schulen noch regelmäßige Mahlzeiten oder ungeflickte Kleidung. Morgens und abends schickt der Marabou sie mit einer Plastikschale versehen auf die Straße zum Betteln. Den Armen und Bettelnden etwas zu geben, das ist eine Säule des Islam, darauf stützt sich das Lebensprinzip jedes kleinen Talibés und seines Marabous. Obwohl per Gesetz im Senegal verboten, soll es immer noch Marabous geben, die die ihnen anvertrauten Talibés schlagen, wenn diese nicht genug Almosen ‚nach Hause‘ bringen. Über solche Marabous empören sich Makhtar und seine Freunde. Mit solchen Marabous arbeiten sie nicht zusammen. Doch mehr noch, viel mehr noch, empören sie sich über die Eltern, die ihre Kinder weggeben, ohne zu wissen, aber auch ohne wissen zu wollen, was mit ihnen in den Daaras geschieht. Von den fünfzehntausend Talibés erreichen die jungen Männer der Association ‚espoir des enfants de la rue‘ gut einhunderfünfzig in insgesamt fünf Daaras bei fünf verschiedenen Marabous. Die Ziele ihrer Arbeit sind:
    •    Den Kindern ein soziales und erziehendes Umfeld bieten -  Assurer un suivi socio – éducatif du talibé .
    •    Eine gesundheitlich stabile Basisversorgung und ein entsprechendes Umfeld  für die Kinder schaffen - Création d’environnement sain pour le talibé.
    •    Jedem Kind eine Matratze, eine Decke und Kleidung geben - Offrir un matelas, une couverture et des vêtements à chaque talibé.
    •    Entwicklungsförderliche Orte für die Kinder schaffen - Création de lieu d’épanouissement des talibés.
    •    Sportliche und kulturelle Aktivitäten für die Kinder organisieren - organiser des activités sportives et culturelles aux talibés.
    •    Den Kindern künstlerisch – kreative Anregungen bieten - Organiser des ateliers artistiques pour les talibés.
Ein paar Stifte, kopierte Blätter, Schulhefte, Verbandszeug und Jod; all das benötigen sie täglich, wenn sie zwischen 13 und 15 Uhr ihre Runde durch die Daaras machen. Alles kostet Geld; sie zahlen von ihrem Ersparten und sammeln über die Association Spenden. Die Kinder danken es mit Anhänglichkeit, mit Dankbarkeit, mit einem Lächeln in den Augen. 
Der Traum der freiwilligen selbsternannten Krankenpfleger und Erzieher: Ein großer, gut ausgestatteter Mehrzweckraum, in dem die Kinder nicht nur Basiswissen erwerben, sondern auch sportlichen Aktivitäten nachgehen können. Die Unterstützung durch europäische Freunde bringt sie dem Traum ein wenig näher. Das ist ihr Leben. ‚Früher‘, so sagt Makhtar, ‚da wollte ich wie so viele andere auch ins Paradies nach Europa. Einmal habe ich es mit der Pirogge versucht. Ich bin gescheitert. Jetzt weiß ich, dass ich hier gebraucht werde. Jetzt bleibe ich hier‘